Richard Medhurst: Journalist und Terrorist?

Er gehört zu den bekanntesten Kommentatoren der geopolitischen Lage im Nahen und Mittleren Osten. Auf seinen Social-Media-Kanälen hat er über eine Million Follower. Doch nun wurden dem britischen Journalisten Richard Medhurst seine Berichte zum Verhängnis. Im August 2024 wurde er nach seiner Landung am Flughafen Heathrow verhaftet und verhört. Medhurst wurde auf Bewährung entlassen und muss im kommenden Jahr wieder bei der Polizei erscheinen. Erstmals könnte einem Journalisten eine Anklage wegen Terrorunterstützung aufgrund der Berichterstattung drohen. Exklusiv erzählte er der Krähe von den Ereignissen.

Er wuchs in Islamabad, Genf und Wien auf. Kurzzeitig hatte er auch im Libanon gelebt, aber daran kann er sich nicht mehr erinnern – er war noch zu jung, erzählte er, als ihn Die Krähe erstmals im September dieses Jahres in einem Wiener Innenstadt-Café traf. Medhurst war gerade aus Großbritannien nach Wien gekommen. Die Stadt kennt er gut, einige Jahre hatte er mit seinen Eltern im 22. Gemeindebezirk nahe dem UN-Hauptquartier gelebt.

Seine Eltern arbeiteten damals bei den Vereinten Nationen in Wien. Zuvor waren sie im Libanon und in den 1980er Jahren im Dienste der UN-Blauhelme-Mission Unifil.

Eigentlich hätten seine Eltern sich gewünscht, dass auch er in den diplomatischen Dienst eintrete, doch Medhurst hat einen britischen Pass und „für den britischen Staat möchte ich nicht arbeiten“. Ein sehr an Politik und Weltgeschehen interessierter Mensch war er dennoch von frühester Kindheit an – und wurde zunehmend unzufrieden mit der Berichterstattung in den britischen Medien über die Länder und Regionen, in denen er selbst gelebt hatte.

Diese Unzufriedenheit wurde zur Grundlage seiner Entscheidung, sich dem Journalismus zu verschreiben. Über die Jahre machte er sich als freier Journalist einen Namen – inzwischen zählen seine Video- und Social-Media-Kanäle hunderttausende Abonnenten. „Ich wollte den Lügen, die in der Presse über die Region, in der ich aufgewachsen bin, etwas entgegensetzen und den Menschen über meine Erfahrungen und mein Wissen berichten“, führt Medhurst aus.

Besonders engagiert ist er im Kampf für Meinungs- und Pressefreiheit. Vielen wurde er als Berichterstatter über den Prozess von Julian Assange bekannt. Nahezu jeden Prozesstag verbrachte Medhurst im Gerichtsgebäude – bei Kundgebungen sprach er in Unterstützung von Assange. Als Aktivist sieht sich Medhurst aber nicht.

Im Sommer 2024 wendete sich dann plötzlich das Blatt: Aus dem Journalisten, der sich für die Freilassung von Assange einsetzte, wurde selbst ein juristisch Verfolgter. Am 15. August landete er am Flughafen Heathrow. Polizisten traten in die Kabine und nahmen ihnen noch im Flugzeug fest. Der Grund der Verhaftung war ihm zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekannt. Medhurst wurde in eine Zelle gesperrt und in den folgenden Stunden mehrmals verhört.

Es seien schwierige Stunden gewesen, erzählt er. Lange Zeit wurde ihm ein Glas Wasser verwehrt, erst spät bekam er Verpflegung. Irgendwann erfuhr er im Verhör dann, wieso er verhaftet wurde: Terrorism Act. Genaue Details der Anklage dürfen in dem laufenden Verfahren zwar nicht veröffentlicht werden, aber es geht um seine journalistische Arbeit – insbesondere wie er über den Krieg Israels gegen Gaza und seine Nachbarländer berichtet. Aufgrund seiner Berichterstattung wird ihm Terrorismuspropaganda vorgeworfen. „Ich bin der erste Journalist, gegen den in Großbritannien wegen Terrorismus ermittelt wird.“

Medhurst wurde auf der Grundlage des 2019 geänderten Gesetzes aus dem Jahr 2000 verhaftet. Dessen Bestimmungen gestatten es, Personen aufgrund von „Gedankenverbrechen“ festzunehmen und mit bis zu 14 Jahren Gefängnis zu bestrafen.

Ihm wurde auch verweigert einen Anruf zu tätigen, denn viele Rechte gelten nicht, wenn gegen den Verhafteten ein Terrorvorwurf besteht: „Du kannst der Polizei nur sagen, welchen Anwalt sie für dich kontaktieren sollen. Aber ich hatte zu dem Zeitpunkt keinen Anwalt, also konnte ich zunächst auch niemanden nennen.“ Durch seine Berichterstattung über Assange waren ihm Anwälte namentlich bekannt. Einen dieser Namen gab er an die Polizei weiter.

Der genannte Anwalt konnte dann am nächsten Abend, fast 24 Stunden nach Medhursts Landung in Heathrow, dafür sorgen, dass er wieder freigelassen wurde. Medhurst wurde sein Reisepass ausgehändigt und ihm aufgetragen, sich Mitte November wieder bei der Polizeistation in Heathrow zu melden. Beim nächsten Treffen mit der Krähe informierte er uns, dass seine Bewährung um drei Monate verlängert wurde. Er muss also erst Mitte Februar wieder bei der Polizei vorstellig werden. Ob dies ein gutes oder schlechtes Zeichen sei, könne er nicht einschätzen, sagt er. Auf Anfrage der Krähe gab die Pressestelle der Londoner Metropolitan Police keine Informationen und verwies lediglich darauf, dass zu laufenden Ermittlungen keine Auskünfte gegeben werden können.

Doch seine journalistische Tätigkeit sei aufgrund der Untersuchung gegen ihn schwieriger geworden. „Meine Arbeit wurde stark eingeschränkt. Viele Medienunternehmen haben die Zusammenarbeit ruhend gestellt und ich passe sehr auf, wie ich meine Berichte formuliere“, erzählt er. Bei nahezu jedem Satz überlege er nun, ob dieser ihm vor Gericht schaden könnte. „Vielleicht war genau das ihr Plan: mich einzuschüchtern und von der Arbeit abzuhalten. Daher wurde vielleicht auch meine Bewährung um drei Monate verlängert – einfach hinauszögern, damit ich meine Arbeit nicht mehr so wie davor ausüben kann“, vermutet Medhurst.

Medhurst ist der erste Journalist in Großbritannien, gegen den aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit eine Untersuchung wegen Terrorismusunterstützung läuft. Doch auch die Arbeit für andere Kollegen wird zunehmend schwieriger. Im Oktober musste ein Journalist aufgrund seiner Berichterstattung eine Hausdurchsuchung der britischen Polizei über sich ergehen lassen. Asa Winstanley wurde bisher aber nicht verhaftet oder angeklagt. „Im Westen erfahren wir eine Phase, die ich ‚Dark Ages II‘ nenne. Es kann eine Rückwärtsgewandtheit in allen Fragen des intellektuellen Lebens beobachtet werden“, zeichnet Medhurst ein pessimistisches Bild. „Kritische Debatte wird zunehmend verunmöglicht. Wenn es so weiter geht, wird es bald gar keine mehr geben.“

Unterstützung erhielt er von der britischen Journalistengewerkschaft NUJ und der International Federation of Journalists (IFJ). NUJ-Generalsekretärin Michelle Stanistreet betonte: „Die Verhaftung und Inhaftierung von Richard Medhurst für fast 24 Stunden unter Berufung auf die Antiterrorgesetze ist zutiefst besorgniserregend und wird wahrscheinlich eine abschreckende Wirkung auf Journalisten in Großbritannien und weltweit haben, die Angst haben, von den britischen Behörden verhaftet zu werden, nur weil sie ihre Arbeit tun.“

Sowohl die NUJ als auch die IFJ seien „schockiert über die zunehmende Anwendung der Antiterrorgesetze durch die britische Polizei auf diese Weise. Journalismus ist kein Verbrechen“, heiß es weiter. Die britische Antiterrorgesetzgebung würde die Pressefreiheit zunehmend einschränken, unterstrich Stanistreet ihre Kritik an dem Vorgehen der Polizei.

Auch die Hausdurchsuchung bei Winstanley wurde in einer NUJ-Erklärung Ende Oktober kritisiert: „Die Beschlagnahmung journalistischer Ausrüstung und deren Einbehaltung über einen längeren Zeitraum ohne angemessene Erklärung ist inakzeptabel und schafft ein noch abschreckenderes Umfeld für alle Journalisten, die ihre legitimen Recherchen und Ermittlungen durchführen.“

Die Repressionen unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung hatten in Großbritannien bereits im Jahr zuvor eingesetzt: Am 17. April 2023 wurde der französische Verleger Ernest Moret bei seiner Ankunft im Londoner Bahnhof St. Pancras unter Verweis auf das Terrorismusgesetz verhaftet – ich berichtete damals in der deutschen Tageszeitung junge Welt. Begründet wurde die Verhaftung mit seiner Teilnahme an Massenprotesten gegen Macrons Rentenkürzungen in Frankreich. Moret wurde gemäß Schedule 7 des Terrorism Act 2000 angehalten, der es „Untersuchungsbeamten“ an Häfen und Flughäfen erlaubt, Personen zu befragen und/oder festzuhalten, um mutmaßliche Terrorakte zu untersuchen. Statt zur Londoner Buchmesse zu reisen, musste Moret das Land unverzüglich wieder verlassen.

Medhurst erklärt im ersten Interview nach seiner Verhaftung der Nachrichtenagentur Anadolu: „Sie versuchen, an mir ein Exempel zu statuieren. Sie versuchen, das akzeptabel zu machen und es dann gegen andere Leute einzusetzen.“ Und er befürchte, dass es damit noch nicht zu Ende sei: „Ich habe das Gefühl, dass sie damit weitermachen werden. Und während wir sehen, wie dieser Völkermord in Gaza weitergeht, verlieren wir gleichzeitig auch unsere Rechte im Westen.“

Obwohl der größte Journalistenverband sich mit Medhurst und Winstanley solidarisierte und die Polizeiaktionen scharf kritisierte, berichteten die britischen Leitmedien nicht über den Fall, erzählt Medhurst. Womöglich eine Selbstzensur, wie sie auch in Österreich unter Journalistenkollegen mittlerweile verbreitet ist – aus Angst, selbst Opfer der Justiz zu werden oder in Ungnade bei den Vorgesetzten zu fallen und den sowieso oft prekären Job zu verlieren.

Dieter Reinisch lebt und arbeitet als Korrespondent für internationale Medien in Wien, Berlin und Belfast. Wie Medhurst ist er Mitglied der britisch-irischen National Union of Journalists.

Dieter Reinisch lebt und arbeitet als Korrespondent für internationale Medien in Wien, Berlin und Belfast. Wie Medhurst ist er Mitglied der britisch-irischen National Union of Journalists.

© Pixabay

Das Versagen der Kleinfamilie

Die Kleinfamilie gilt in unserer Gesellschaft als Ideal – trotz steigender Scheidungs- und Trennungsraten. Die Frauenforscherin und Politikwissenschafterin Mariam Irene Tazi-Preve erklärt in ihrem hochaktuellen Buch „Das Versagen der Kleinfamilie“ (2018), weshalb diese Form der Familie zum Scheitern verurteilt ist, wie Mütter darunter leiden und warum die angebliche Vereinbarkeit von Arbeit und Familie eine Lüge ist. Die Autorin stellt die Frage „Cui bono?“ – und zeigt Alternativen auf.

2023 wurden in Österreich 14.721 Ehen rechtskräftig geschieden, 724 oder 5,2 Prozent mehr als 2022. Rund 17.400 Kinder aller Altersstufen waren von der Ehescheidung ihrer Eltern betroffen. Die Zahl der Trennungen unverheirateter Paare ist nicht bekannt. Die Geburtenrate dagegen sinkt seit Jahren beständig – mit Ausnahme des Corona-Jahres 2021. Auch Gewalt in der Familie ist eine nicht zu leugnende Thematik. Laut einer Infoseite des Bundeskanzleramts erfolgt Gewalt an Kindern und Jugendlichen überwiegend im Bereich der Familie und durch Täter, die bekannt und vertraut sind. Wie passt das zum allseits propagierten Ideal der „heilen Familie“?

Familie als Ort der Neurosen

„Es gilt zu verstehen, dass hier nicht ‚Normalität‘ am Werk ist“, schreibt Mariam Irene Tazi-Preve in ihrem Buch „Das Versagen der Kleinfamilie“. Das Familiensystem folge vielmehr einer Norm, also einer konstruierten Form. Ihrer Meinung nach beruht das Grundschema der Kleinfamilie auf einer juristischen Finte der Römer: „Es sollte etwas sichergestellt und amtlich besiegelt werden, das gar nicht sicher sein konnte: nämlich die Vaterschaft – während die Mutterschaft ja immer augenscheinlich war. Die Ehe begründete rechtlich die Hoheit des ‚pater familas‘ über die Früchte seines Landes, seines Haushalts und ‚seiner Lenden‘.“

Was bei den Römern vielleicht noch zeitgemäß war, wird nun zunehmend in Frage gestellt. „Im Vater-Mutter-Kind-Dreieck sind erotische Anziehung, ökonomische Abhängigkeit und das Aufziehen von Kindern miteinander verknüpft“, schreibt Tazi-Preve. „Die Grundannahme dieser Konstellation – die lebenslange Liebesbeziehung – hält aber der Realität des Alltags nachweislich nicht stand. […] Und obwohl hinlänglich bekannt ist, dass die Familie der Ort der Entstehung von Neurosen ist, wird nur die Verfasstheit und Ausgestaltung des Ortes, aber nicht seine Existenz selbst in Frage gestellt.“

Mutterfalle und Patriarchat

„Die patriarchale Mutter muss dem Ideal der heterosexuellen Beziehung folgen, am besten in der Ehe, die angeblich für sie und ihre Kinder der sicherste Ort ist“, schreibt Tazi-Preve. Die Wahrheit widerspreche dem aber deutlich: „Zum einen ist die Familie der gefährlichste Ort für Frauen und Kinder überhaupt. […] Zum andern ist die lebenslange Liebesbeziehung nicht die Regel, sondern sie ist ganz im Gegenteil die Ausnahme.“ Ein weiteres Charakteristikum der Mutter im Patriarchat sei ihre Idealisierung, gerade im deutschsprachigen Raum. Zugleich laste der Großteil der Verantwortung für die Kinder auf ihren Schultern. Tazi-Preve kritisiert, dass für arbeitende, also doppelbelastete Mütter Dauererschöpfung typisch sei. „Mütter haben also Optionen, von denen keine wünschenswert ist: Die erste ist die der Hausfrau, die ihr gesamtes Leben vom Ehemann abhängig bleibt. […] Die zweite Option bedeutet Teilzeitarbeit, ohne damit je den Lebensunterhalt für sich und die Kinder bestreiten zu können. Frauen bleiben bei diesem Modell weiterhin von Ehemann oder staatlichen Leistungen abhängig.“ Die dritte Wahlmöglichkeit sei die Vereinbarung von Vollzeiterwerbstätigkeit mit Mutterschaft und Haushalt – „was zumeist eine völlige Überforderung darstellt.“

Tazi-Preve spricht hier von der „Vereinbarkeitslüge“: „Das Problem ist nämlich, dass Erwerbssystem und Kleinfamilie nach gänzlich konträren Logiken funktionieren. Der Arbeitsmarkt ist charakterisiert durch Kosten-Nutzen-Kalkül und Konkurrenzdenken als Grundprinzipien der Wirtschaft. Im Gegensatz dazu benötigt das Familienleben Stabilität und ist Ort der emotionalen Zuwendung und Empathie.“ In einen größeren Zusammenhang stellt die Autorin Patriarchat und Kapitalismus: Dieser werde ermöglicht durch die „Unsichtbarmachung der Frauenarbeit, die Gewalt gegen Frauen, gegen die Natur und die an Bodenschätzen reichen Länder des Südens im Verein mit den Prinzipien der strikten Hierarchien, Dominanz und Profitmaximierung.“ Dem gegenüber stehen alternative Ökonomieansätze wie der von Vandana Shiva begründete Ökofeminismus, der das weibliches Prinzip als Verbundenheit aller Lebewesen, Kreativität und Produktivität sieht.


Wo sind die Väter?

2023 betrug die Teilzeitquote in Österreich bei Frauen mit Kindern unter 15 Jahren 74 Prozent, bei Männern 7,7 Prozent. Laut dem Wiedereinstiegsmonitoring 2024 …

© BergWolf

 

Die Ausgabe 11 ist da!

In der Winter-Ausgabe von Die Krähe finden Sie wieder viele spannende Themen. Zum Beispiel warum der britische Journalist Richard Medhurst eine Anklage wegen Terrorunterstützung befürchten muss. Und der Verleger Albert C. Eibl erzählt, warum er seinen Verlag "Das vergessene Buch" gegründet hat und was in den geheimen Tagebüchern des jungen John F. Kennedy steht.

Unter anderem in der aktuellen Ausgabe (Nr. 12)

Der Vermögensverwalter
BlackRock führt die Welt an den Abgrund, aber sie wehrt sich, die Analyse 

von Werner Rügemer

Wie die Arktis zum umkämpften
Wirtschaftszentrum wurde, die Recherche von Moskau-Korrespondent

von Ulrich Heyden

Warum Trump und Musk so sind wie sie sind, die Kinderkurzgeschichte

von Christine Gollub

Probelesen

Hier können Sie die erste Ausgabe von Die Krähe vom November 2022 kostenlos durchblättern und lesen.

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