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„Mein Vater erklärte mich für die jüdische Gemeinschaft für tot“
In Gaza und Israel gibt es ein kollektives Aufatmen nach der vereinbarten Waffenruhe. Ein Grund dafür, dass dieser über ein Jahr andauernde Konflikt nicht in Vergessenheit geriet, sind tausende Aktivisten, die sich auf der ganzen Welt für die Rechte der Palästinenser und eine Waffenruhe in Gaza einsetzten. Dalia Sarig ist eine davon. Sie ist Wienerin und Jüdin und kämpft als Aktivistin für ein freies Palästina. Im Interview erzählt sie, wie ihre Familie 1938 aus Angst vor den Nationalsozialisten nach Palästina auswanderte und warum Sarig selbst, 77 Jahre später, ihre israelische Staatsbürgerschaft aufgab. Und sie erklärt, warum es aus ihrer Sicht notwendig ist, Israels Behandlung der Palästinenser mit der Behandlung der Juden durch die Nazis zu vergleichen.
ch bin besonders an Ihrer Familiengeschichte interessiert, vor allem an der Flucht aus dem nationalsozialistischen Wien und dem anschließenden Wiederaufbau des Lebens Ihrer Familie in Palästina. Wie hat diese Geschichte Ihre Identität geprägt?
Meine Großmutter, die bemerkenswerterweise heute noch lebt, wurde 1929 in Wien als ältestes von vier Geschwistern in einer jüdischen Familie geboren. 1938 wurde mein Urgroßvater wegen des einzigen Verbrechens, Jude zu sein, verhaftet und einer öffentlichen Demütigung unterzogen. Er wurde dank der Intervention eines Nazis freigelassen, der wahrscheinlich von meiner Urgroßmutter Rosa mit einer hohen Summe bestochen wurde.
Kurz darauf floh die Familie aus Wien nach Serbien, wo Rosa schnell die wachsende Gefahr des Nationalsozialismus spürte und beschloss, nach Palästina zu emigrieren. Gegen den Widerstand ihrer Familie gelang es ihr, teure Genehmigungen zu erhalten, und während der Reise bestach sie die Beamten mit dem mitgebrachten Schmuck. Diese Episode prägte sie so sehr, dass sie für den Rest ihres Lebens an Feiertagen kostbaren Schmuck trug.
In Palästina ließen sie sich in der Region Haifa nieder, wo sie sich erfolglos in der Landwirtschaft versuchten, bevor sie einen Lebensmittelladen eröffneten. Das Leben war hart: Lebensmittelknappheit, ein feindliches Klima und Depressionen machten Rosa den Aufenthalt schwer, sodass sie 1947 beschloss, mit ihren jüngsten Kindern nach Wien zurückzukehren.
Meine Großmutter blieb derweil in Haifa, wo sie heiratete und 1948 meine Mutter zur Welt brachte. Ihr Mann nahm am Krieg von 1948 teil und war in Galiläa stationiert, einem der Gebiete, die von ethnischen Säuberungsaktionen betroffen waren. Ich habe nie mit ihm über diese Ereignisse sprechen können, da er sich kurz nach meiner Geburt von meiner Großmutter scheiden ließ. Unzufrieden mit ihren Lebensbedingungen beschlossen meine Großmutter und ihre Familie in den späten 1950er Jahren, nach Wien zurückzukehren.
Bis heute vertreten meine Großmutter, meine Mutter und mein Onkel grundlegend rassistische zionistische Ansichten und haben Vorurteile gegenüber Palästinensern, Arabern, Schwarzen, Sinti, Roma und sogar sephardischen Juden, die sie mit abwertenden Begriffen bezeichnen. Meine Familie hat immer betont, wie wichtig es ist, eine starke jüdische Identität zu entwickeln, was sich tiefgreifend auf meine Erziehung ausgewirkt hat. Da ich in einem Umfeld aufgewachsen bin, in dem der Holocaust und die Verfolgung eine zentrale Rolle spielten, habe ich mir geschworen, niemals Teil einer schweigenden Mehrheit zu sein. Die Erinnerung an diese dunkle Zeit hat mein Engagement, angesichts von Ungerechtigkeit nicht untätig zu bleiben, tief geprägt.
Wie beeinflusst das historische Gewicht des Holocausts im österreichischen Bewusstsein die Haltung der jüdischen Gemeinschaft zum israelisch-palästinensischen Konflikt?
Die jüdische Gemeinde in Österreich ist überwiegend zionistisch geprägt. Sie unterstützt Israel nachdrücklich und verteidigt dessen Recht auf Selbstverteidigung. Sie unterhält auch enge Beziehungen zur israelischen Botschaft und investiert erhebliche Anstrengungen in die Lobbyarbeit, um die öffentliche Meinung zugunsten Israels zu beeinflussen. Es gibt auch eine kleine, aber entschlossene antizionistische jüdische Gemeinschaft, die in der Gruppe Judeobolschewiener*Innen (JBW) organisiert ist, die in der bündischen Tradition wurzelt. Trotzdem zögern viele ihrer Mitglieder, sich öffentlich zu exponieren, weil sie Repressalien wie den Verlust ihres Arbeitsplatzes oder ihrer akademischen Möglichkeiten befürchten. Ich arbeite zum Beispiel gerade an einer Wiener jüdischen antizionistischen Erklärung, …
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